Paolo Bianchi

Corporate City
Exkurs über die Stadt als Annäherung an ein Plakatprojekt

"Die Stadt ist meine Religion"
Die Stadt ist ein Raum, wo sich eine Vielfalt von Beziehungen entspinnen, wo Informationen ausgetauscht werden, wo Kommunikation aller Art stattfindet. Das macht die Stadt so progressiv. Das passiert seit zweitausend Jahren auf dichtem Raum wie in einer Sauna und macht aus der Stadt die konzentrierte Darstellung der westlichen Zivilisation schlechthin. Die Stadt ist seit der Antike die kulturtragende Siedlungsform der Menschen. Doch in den heutigen Megalopolen der Computer- und Telekommunikation, den Telepolen, hat die Informationssexplosion einen Kommunikationsoutput zur Folge, der keinen Sinn mehr transportiert.
Die Stadt befindet sich heute an der Schwelle einer Revolution nicht nur der Kommunikation, sondern der Telekommunikation: Die Besiedlung findet nicht mehr nur in der Dimension des Raums statt, sondern auch in der Dimension der Zeit. Die Stadt, etwa Wien, Berlin oder Paris, ist eingebunden in eine konzentrische Figur, ist nur noch ein Trabant, der sich wie die Weltstädte der anderen Kontinente auf ein Zentrum bezieht: die virtuelle Stadt.
"Das Informationszeitalter wird die Menscheit revolutionieren. Ein neues Zeitalter bahnt sich an, das unsere Begriffe von Realität und Leben grundlegend verändern wird", hallt es aus dem Multimedia-Mekka San Francisco nach Europa rüber. "Reality Sucks ... Try Virtual Reality" – im Datennetz Internet und Word Wide Web surfen Künstler zusammen mit rund 35 Millionen anderen Nutzern mit Lichtgeschwindigkeit um den Globus, proben im Cyberspace Spielregeln und Möglichkeiten aus und loten so neue Schnittstellen zwischen Kunst und Öffentlichkeit aus.
Wo die grösste Kommunikation herrscht, tauchen jedoch auch die grössten Schwierigkeiten auf. Das gilt auch für den Stadt-Diskurs, der mit tausend und einer Frage zwar jedes Gehirn stresst, dafür die Renaissance der Urbanität feiert: Wohin bewegt sich die Stadt heute? Was braucht der Mensch für Städte? Was für Stadtbilder bringt uns die Zukunft? Die Stadt ohne Urbanität?
Nach Jahrzehnten, in denen das Thema aus der Mode ge-kommen schien, "trägt man wieder Stadt", stehen "Die Städte der Welt und die Zu-kunft der Metropolen" seit einigen Jahren auf internationaler Ebene wieder ver-mehrt zur Diskussion. Die Literatur zu Architektur, Städtebau, Stadtkultur und Urbanität blüht. "Sex is my religion" bei Jungfrau Madonna wandelt sich beim städtischen Intellektuellen in:"Die Stadt ist meine Religion, sie peitscht meine Kreativität an und zugleich zerrt sie an meiner Lebenskraft." (frei nach den Worten des französischen Philosophen Michel Serres ) Der Stadtkörper, er wird begehrt und gleichzeitig verflucht, geliebt und gehasst. Befriedigt er die Phantasie der Künstler?

Die glokale Metastadt
"Die Gestalt der Stadt ist im Begriff sich aufzulösen", meint der Pariser Professor für Urbanistik Paul Virilio und enwirft eine düstere Prognose über die Zukunft der Stadt: "Damit entzieht sich alles, aber auch alles der Regierbarkeit: die Demokratie, die Polizei, der Krieg, die Epidemie, die Mörder, die Bevölkerungspolitik, alles fliegt auseinander. Die politische Gestaltung der Stadt hielt die politische Entwicklung der Gesellschaften zusammen: mit dem Dorf, dem Marktplatz und dann der Stadt hat der Prozess der Gestaltung begonnen. Jetzt explodiert das Ganze, es ist büchstäblich eine Explosion, das ist keine Metapher."
Virilio spricht über die virtuelle Stadt und skizziert die Lage bildhaft: "Hier ist Singapur, hier ist Kalkutta, hier ist Rotterdam, das sind die Vorstädte der virtuellen Stadt. Die elektronischen Netzwerke fördern die Entwicklung dieser virtuellen Stadt. Die Datenautobahn wird eine virtuelle Stadt schaffen. Im Zuge dieser noch nie dagewesenen Hyperzentralisierung entsteht die Weltzeit. In der Vergangenheit entwickelten sich die Städte im Rahmen lokaler Zeiträume, deshalb unterscheidet sich die Geschichte Frankreichs von der Geschichte Deutschlands oder Italiens. Die Zeitzonen, der Wechsel zwischen Tag und Nacht, spielten noch eine wesentliche Rolle. Künftig gibt es keine lokale Zeit mehr. Es gibt nur noch die Weltzeit, die Gleichzeitigkeit: sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag, live. Interaktivität und Datenautobahnen werden neue Massstäbe setzen auf Weltzeitniveau. Der einzige Bezugspunkt wird die astronomische Zeit sein, die universale Zeit der Astronomen und Astrophysiker."
"Die Metastadt", so der Stadtphilosoph Virilio, "zieht alles an sich, sie zieht die meisten Menschen an, weil sie über Macht und Reichtum verfügt. In der Zeit der Live-, der Direktübertragung, der Telearbeit entsteht die virtuelle Stadt: Die Hauptstadt der Hautpstädte. Und alle Weltstädte der Erde werden zu Vorstädten dieses abstrakten Zentrums ... Die Dezentralisierung der Arbeit dank Telekommunikation hat sich als Illusion erwiesen, stattdessen entstehen Megastädte, Städte, die man glokal bezeichnen kann, weil sich gleichzeitig lokal und global verankert sind."

Die verletzbare Stadt
In der Moderne und Postmoderne wurde die Metropole zum Moloch. Angesichts der Mitte der 60er Jahre verkündeten "Unwirtlichkeit der Städte" (Alexander Mitscherlich) und der Ent-wicklung der gigantischen Agglomerationen von heute – besonders in der dritten Welt – stellt sich die Frage, ob die Idee der Stadt nicht längst unzeitgemäss ist.
Probleme über Probleme befallen die Städe. Einige Stichworte: Autos (die Durchschnittsgeschwindigkeit auf Londons Strassen beträgt 18 km/h), Lärm, Müll, Drogen, Obdachlose, Migration, Multikultur und grenzenloser Wirtschaftsmarkt. Stadtplaner sind solchen Kräften nicht mehr gewachsen. Nicht von der Stadt droht deshalb Gefahr, sondern die Städte selbst erscheinen verletzbar, ohnmächtig, zutiefst gefährdet.
Der Kulturpessimist Oswald Spengler meinte aus der Beobachtung antiker Zivilisationen schliessen zu können, dass der "unheimliche Koloss Weltstadt" (heute würden wir von Megacity oder Megalopolis sprechen) immer das Ende einer kulturellen Epoche anzeige. Babylon, Karthago, Atlantis und Alexandria sind untergegangen und zerstört worden. Heute überfällt die Zerstörungswut der Tschetniks Städte wie Vukovar, Dubrovnik, Mostar und Sarajevo. "Es ist", wie Karl Markus Michel schreibt, "ein ehrwürdiger barbarischer Brauch, seine Feinde nicht nur an ihren Leibern zu strafen, sondern auch an ihren Steinen, die ja, wie Poseidonios in alten Zeiten sagte, der Ausdruck der Seele sind." Deshalb werden im Krieg Kulturdenkmäler zerstört, Museen und Bilbiotheken geplündert und ausgeraubt, Städte dem Erdboden gleichgemacht.
Im Jahre 2000 wird erstmals in der Weltgeschichte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Grossstädten wohnen oder vegetieren. Im Jahre 2025 wird die Stadtbevölkerung voraussichtlich 65 Prozent ausmachen. 21 Megacities mit jeweils mehr als 10 Millionen Einwohnern sind am Entstehen. So stellt sich die alte Frage nach dem Überleben in der Stadt wieder neu. Sind die Metropolen von morgen noch bewohnbar, bezahlbar und regierbar?

Die körperschaftliche Stadt
Viele Städte oder eine einzige Stadt? Das gesichtslose Gesicht und der charakterlose Charakter der Megastädte, die monotone Austauschbarkeit und sterile Wiederholung moderner Agglomerationen, sei es nun in Rom, Paris, London, Bombay oder Kairo, führt unweigerlich zu dieser Frage. Das Auslöschen der Eigenarten der Städte, das Einschmelzen der Pole Stadt und Land, der Verlust von Mitte und Rand, das Verschwinden der Topographie, die Neutralisierung der Umwelt, das "Ende des Physiognomischen der Städte" fällt, so der Philosoph Harmut Böhme, mit dem Ende des konturgebenden und spurenlesenden Denkens zusammen. Die Stadt und das städtische Denken befinden sich in der Krise. Werden Stadtplanung und Philosophie inskünftig zu Inszenierungen der Ungewissheit verkommen? Ein unbestimmstes Schicksal erwartet die Stadt. Ein unbestimmtes Schicksal auch für die Intellektuellen und Künstler?
Auffallend ist an der Gegenwartskunst, dass sie weniger auf der Flucht, als vielmehr flüchtig geworden ist. Der Blick auf die Kunst hinterlässt den Eindruck von Unendlichkeit, von Entgrenzung, von Verflüssigung und Immaterialität. Die Beweglichkeit und Ungreifbarkeit ist ein Hauptthema der Kunst, vor allem der Malerei der Gegenwart, die sich der Fixierung auf eine bildliche Objektivität entzieht, ohne auf Medien der Immaterialität zurückgreifen zu müssen.
Die Grossplakataktion des Wiener Künstlermännerpaars Otto Mittmannsgruber und Martin Strauss überträgt die Auflösung der Städte auf die Zersplitterung der Identitäten und Gemeinschaften, auf den Vertrauenschwund gegenüber Politikern und multinationalen Gesellschaften (z. B. Shell). Es handelt sich, so paradox dies klingt, um eine konzeptuelle malerische Arbeit mit den Mitteln der Werbung. Indem Firmenlogos mittels einer detailarmen und kalten Typografie ästhetisch vereinheitlich werden, setzen die Künstler die Einmaligkeit und Besonderheit des spezifischen Unternehmens ausser Kraft. Die Coporate Identity, frei übersetzt die körperschaftliche Persönlichkeit, wird dadurch nicht in Frage gestellt, was ein kritischer, ja fast schon politischer Akt wäre, sondern einfach negiert. Die Plakataktion ist somit keine Subversion oder Demontage. Die Schriftzeichen müssen vielmehr als Subverse gelesen werden, die weniger die karikierten Unternehmen porträtieren, als vielmehr den körperschaftlichen Geist der Stadt selbst thematisieren. Sie lesen sich wie ein Rätsel, das seine Auflösung erst dann erfährt, wenn sich der kritische Konsumentenblick auf die Corporate Identity der Stadt richtet, auf die Corporate City also.

Die verknüpfende Stadt
Im Plakatieren des Stadtkörpers artikuliert sich eine Konsumgesellschaft, welche die Erfüllung aller Träume propagiert und zur sofortigen Befriedigung aufruft. Die angepriesenen Produkte markieren zugleich die Unterschiede zwischen den Menschen, zwischen denen, die es sich leisten können und denen, die auf der Strecke bleiben. Auf den Plakaten kann immer der jeweilige Punktestand abgelesen werden im Spiel zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen individueller Machbarkeit und gemeinschaftlicher Machtlosigkeit. Im weitern können die Plakate als visuelle Trostpflaster betrachtet werden, die kaum den Schmerz über den Verlust der Stadt als öffentlicher Schauplatz des Lebens lindern, Verlust, welcher in uns Gleichgültigkeit, Prozesse der Zerstückelung, der Entfremdung, der Einsamkeit und der Vereinzelung hervorruft. Längst sind Strassen und Plätze zu Orten der Anonymität, Kälte und Leere verkommen.
Die Plakataktion von Mittmannsgruber und Strauss ist ein Paradox. Indem die beiden die heisse imagebildende Welt der Werbung, die mit grösstmöglichem Einfallsreichtum die Unterschiede hervorhebt, in eine kalte Ästhetik transferieren, die keine Unterschiede mehr kennt, lassen sie sich auf die Unterschiede ein, zeigen Bereitschaft, eine wirkliche visuelle Kultur des Unterschieds zu entwerfen, indem sie diese mit einer ironischen Wendung auf den Kopf stellen.
Hinzu kommt, dass die Plakatwand nicht als Kunstort verstanden wird, sondern als Ort des Werks, als Kontext für Kommunikation, als Wirkungs- und Handlungsspielraum. Diese kulturelle Praxis reflektiert die diskursive, dialogische und ästhetische kontextuelle Eingebundendheit von Kunst. Wenn, wie bei Mittmannsgruber und Strauss, neu Un-Orte bzw. Nicht-Orte für die Kunst entdeckt und bespielbar gemacht werden, bedeutet das ins Griechische und damit in die Kenntlichkeit übertragen: "Utopie", gleich "Nicht-Ort". Der Ort der Kunst ist die Ortlosigkeit. Die ortlosen Plakatinterventionen sind die Zeichen einer Kunstlust auf das Verschwinden der Stadt. Es sind Zeichen, die zeigen, dass nicht nur eine neue Kontextualisierung der Stadt in der Kunst entscheidend ist, sondern darüher hinausgehend die Konnexion, das Verknüpfen und Verflechten der Stadt mit dem eigenen Körper und Denken – und neu mit der Köperschaftlichkeit der Stadt.

Publikation Monolog des Vertrauens, 1995 top