Oskar Lepis

Plakate zu Fremd

Mittmannsgruber/Strauss, S. Wachsmuth, C. Lutze

Die Darstellung eines gebrauchen Gechirrtuchs im üblichen rot-blauen Karodesign mit dem Schriftzug: “Wir bleiben unter uns!” - in derselben blauen Farbe, die auch für die maschinell gestickten Linien des Tuchs verwendet wurde. Unten rechts ein schräger Streifenaufdruck in den österreichischen Landesfarben. In das Weiß ist die Information gesetzt: “1996 konnten wir 92 Prozent aller Asylanträge ablehnen!” Wieder dieses einvernehmende ‘Wir’. Das Plakat von Mittmannsgruber und Strauss zu ‘Fremd’ ist vielleicht der grafisch unspektakulärste Entwurf der Projektserie und gleichzeitig der explosivste. Das Plakat scheint die affirmative Sprache der Wahlwerbung zu benutzen, obwohl der Unterschied zu dieser überdeutlich bleibt: Das irritierende Understatement des Geschirrtuchs, - dessen Rastermuster noch nicht einmal parrallel zum Bildrand verläuft, der Verzicht auf Signalfarben und auf einen attraktiveren hervorstechenderen Schriftzug etc.. Zum ersten Mal formulieren Mittmannsgruber und Strauss einen Slogan. Sie greifen ein politisches Thema, das Problem des Asyls in Österreich, direkt auf. Die Rezeption dieses Plakates entscheidet sich danach, wie das zweifache, affirmativ einnehmende ‘Wir’ des Slogans verstanden wird.

Strauss: »Um das ‘Wir’ dreht sich der Witz des Plakates. In der politischen Realität ist ‘Wir’ natürlich die Regierungskoalition, denn sie verantwortet diese Ausländerpolitik - einschließlich der Direktiven an die Exekutive, die diesbezüglichen Gesetze so und so streng zu handhaben.«

Mittmannsgruber: »Andererseits richtet sich das ‘Wir’ direkt an den Betrachter und fragt ihn, ob er dazugehören möchte oder nicht. Es ist ein Parameter, den der Betrachter selbst verschieben kann und wird: Wenn z.B. die Botschaft des Plakates affirmativ gelesen wird, ist ‘Wir’ ein Personenkreis, mit dem man sich identifiziert, man wird bestätigt. Dieser Betrachter wird sich dann womöglich denken: "Das ist aber eine eigenartige Werbung, die meinen Standpunkt mit einem schmutzigen Geschirrtuch zusammenbringt." Und im Gegenteil wird derjenige auf Distanz gehen, der die Botschaft verurteilt.«

Strauss: »Unser Sujet wurde zwar von einer kritischen Haltung her entworfen - d.h. es ist satirisch oder sogar zynisch konzipiert. Im Umfeld des Mediums Plakat aber verhält es sich eher indifferent. Es wird durchaus Leute geben, die die Überspitzung und den Sarkasmus nicht lesen, sondern das 1:1 und ohne Ironie aufnehmen, quasi als unbezahlte weltanschauliche Werbung für die eigene rechte Position. Diese Indifferenz in der Wirkung sowie den medialen Kontext mitbedacht und miteingerechnet, könnte man also (von einer distanzierteren Warte aus) sagen: Das Plakat ist ‘realistisch’.«

Ein zentraler Begriff in der Konzeption der Plakataktionen von uns ist die Differenz, die als die subtile aber eindeutige Marge zu verstehen wäre, die die analytisch-künstlerische Arbeit im Medium Plakat von der kommerziellen Werbung unterscheidet.

Mittmannsgruber: »Wir wollen in diesem Fall nicht die unmittelbare, offensichtliche Differenz, um eine sofortige Abkehr und Abwendung, oder eine bestimmte Vorprägung (Achtung: Kunst) zu vermeiden, sondern wir wollen zu einer Kommunikation einladen und reizen. Dies geschieht über die Annäherung an die Ästhetik des Umfeldes. Erst in zweiter Ebene wollen wir die Differenz.«

Strauss: »Wenn jemand dieses Plakat sieht, stellen sich ihm Fragezeichen, die auch das Verhältnis zur Sprache der Werbung betreffen. Die Unterschiede stecken dabei im Detail: Eine Werbeagentur hätte z.B. niemals die Buchstaben des Hauptslogans so zurückgenommen und dem Blau des Geschirrtuchs angenähert, wodurch der Schriftsatz etwas verschwommen und selber ein bißchen dreckig wirkt.«

Eine wesentliches, wenn nicht überhaupt das entscheidende Kriterium der Plakataktionen von uns ist das Fehlen eines Absenders. In der Grammatik der Werbung bedeutet dieses Fehlen des Absenders den eigentlichen Skandal. Das Fehlen eines Absenders auf Plakaten löst eine Verunsicherung aus. Es werden offensichtlich keine expliziten Interessen vertreten, außer eben jenen Aussagen über das Medium selbst.

Strauss: »Bei unseren ersten - stark medienbezogenen - Plakataktionen über das Kommerzmedium, ‘Monolog des Vertrauens’ und ‘Testbilder’, war es besonders wichtig, daß es keinen Absender gab, sondern daß die Sache ganz aus dem Verhältnis zum Kontext und in diesem Sinne aus sich selbst heraus funktionierte. Und jetzt beim Projekt ‘Fremd’, dessen Thema ja von einer medienexternen Problematik herrührt, glaube ich, daß jedes einzelne Plakat für sich verständlich sein sollte und dann seine je spezifische und differente Kommunikation betreibt. Aber darum ist auch hier wieder kein Absender nötig.«17)

Mittmannsgruber: »Das war übrigens unserer Meinung nach ein Problempunkt bei einigen der Plakataktionen von ‘museum in progress’, bei denen ja immer das Logo des Sponsors - Austrian Airlines - plaziert ist. Das Logo wird eben als Absender gelesen. Das hat bei mehreren Plakaten sogar zu ‘Mißverständnissen’ geführt, die vermutlich wenig der vom Künstler intendierten Rezeption entsprachen. Auf alle Fälle aber wurden die Plakate durch die Plazierung eines kommerziellen Logos vollständig in den Werbekontext eingebunden ist und das bewirkte - zumindest bei einigen Sujets - eine Einschränkung und Zurichtung des an sich viel breiteren Bedeutungshorizonts dieser Arbeiten.«

Für uns gilt also: Es geht nicht um Werbung für oder mit Kunst oder die Umfunktionierung der Werbung zu einem Beitrag im Kunstdiskurs. Und es geht auch nicht um eine Ausstellung von Kunst in einem öffentlichen, medialen Raum - im Sinne eines bloßen Medientransfers -, sondern um das Arbeiten im Medium, ein Einklinken in das Medium.

Mittmannsgruber: »Das Kommunikationsbewußtsein, das mit dem Gebrauch der öffentlichen Medien einhergeht, sollte geschärft werden. Mir geht es vor allem darum, daß man das Medium anders benutzt, es tatsächlich auch für andere Ziele einsetzt, und nicht nur - wie im Fall des Plakats - für die Werbung reserviert. Die langfristige Strategie sollte sein, daß das einfach als Kommunikationsfläche erschlossen wird, aber dazu reichen natürlich ein paar Plakatprojekte noch lange nicht. Mir geht es auch nicht um eine Kunstdiskussion.«

Strauss: »Interne Fragen des Kunstbegriffs spielen hier unmittelbar gar keine Rolle. Das ist der Punkt, an dem Leute aus dem Kunstbetrieb ihre Schwierigkeiten haben. Weil sie verkennen, daß der gesamte institutionelle Rahmen - Galerie, Museum, Archiv etc. - wegfällt, und somit auch der Begriff des Kunstwerks, soweit er mit diesem institutionellen Rahmen verknüpft ist. Man kann natürlich schon die Wahrnehmung als Kunst mit ins Spiel bringen, aber dies eher von außen, in dem Sinne, daß Kunst hier die Institution wechselt und in ein anderes Medium einschleicht. Entscheidend aber ist, daß dort ganz andere Umstände herrschen und daß dieser gesamte, neue und fremde Kontext gegenüber dem ‘Kunstwerk’ - das nun keines mehr ist - eindeutig dominiert. Darum ist hier die Reflexion des Umfelds - z.B. in Begriffen wie Annäherung und Differenz - so wichtig. Und nebenbei gesagt, zeigt sich deshalb ein Mangel an Verständnis und Bewußtsein, wenn Kunstvermittler oder Künstler in diesem Zusammenhang immer noch mit dem Begriff ‘Ausstellung’ operieren: Die Einschaltung von Kunst in ein Massenmedium mag alles mögliche sein, aber sie ist bestimmt keine ‘Ausstellung’, weil dort eben völlig andere Wahrnehmungsbedingungen bestehen. Ich halte eine solche Kritik auch nicht für philologische Haarspalterei einer übergenauen ästhetischen Theorie. Hier löst sich der Begriff und der Sachverhalt ‘Ausstellung’ tatsächlich auf, der für die Moderne eine wesentliche Kategorie von Kunst war und - innerhalb des ‘Betriebssytems Kunst’ - immer noch ist.«

Mittmannsgruber: »Apropos ‘Kontext’ - der Begriff hatte ja in den letzten Jahren im Kunstbetrieb geradezu Konjunktur. Was hier jedoch unter dem Segel Kontextdiskurs gelaufen ist, widmete sich in der Regel nur ganz internen - und in gesellschaftlicher Hinsicht eben deshalb marginalen - Funktionen des Kunstsystems: Untersuchungen von Institutionen des Betriebs wie Museum oder Sammlungen von Wirtschaftsunternehmen, Interviews mit GaleristInnen usw.. Das war einerseits manchmal reichlich langweilig, andererseits aber würde dieser Begriff die Möglichkeit bieten, tatsächlich aus dem hermetisch isolierten gesellschaftlichen Feld ‘Kunst’ hinauszugehen und ihn auf das tatsächliche künstlerische Arbeiten in anderen Handlungsfeldern anzuwenden. Nur wurde das leider viel zu wenig getan. Also nochmals konkret: Wir wollen das Plakat nicht als Werbemedium für Kunst verwenden und der Begriff der Ausstellung trifft bei uns nicht zu. Obwohl natürlich legitim ist, die Werbefläche nach wie vor als solche zu nutzen, weil dies ihre hauptsächliche Funktion ist.«

Strauss: »Der Begriff ‘Ausstellung’ ist hier auch schon deshalb falsch, weil ein wirkliches Einklinken ins Medium bedeutet, große Stückzahlen und hohe Streuungen zu schalten, während die Wahrnehmung innerhalb einer Ausstellung immer auf das abgesonderte Einzelne, das Unikat bezogen ist. Die ästhetische Wahrnehmungsweise der Ausstellung gilt dem ‘Original’, gleichgültig ob das je besondere Werk im strengen Sinn tatsächlich eines ist. Man müßte demnach einen neuen Begriff prägen, mit dem man diese anderen künstlerischen Handlungsfelder besser beschreiben könnte.«

Mittmannsgruber: »Im selben Zusammenhang steht für mich auch ein weiterer kritischer Punkt dieser Praxis, der mit einer expliziten Auszeichnung als Kunst, also wieder mit der Problematik des Absenders zu tun hat. Ich halte es für kontraproduktiv, wenn man einerseits den institutionalisierten Ausstellungsrahmen verlassen möchte, andererseits aber dann im öffentlichen Raum des Massenmediums durch irgendeine Etikettierung den besonderen Charakter dieser Einschaltung als künstlerische hervorhebt. Das ist erneut die Warnung “Vorsicht: Kunst”, durch die man gewissermaßen die Museumsmauern, denen man eigentlich entkommen möchte, nachträglich wieder aufzieht. So wird ‘künstlich’ eine Wahrnehmungsschwelle aufgerichtet und die mögliche Wirkungskraft der jeweiligen Intervention unnötig geschwächt. Es ist der Versuch - zweifellos ohne Erfolg - andere Konditionen der Wahrnehmung in ein Massenmedium zu verpflanzen.« top


Simon Wachsmuth

Das Plakat von Simon Wachsmuth zeigt einen Textauschnitt aus der Thora (Altes Testament, Deuteronomium, 23/16 u.17) in alter hebräischer Quadratschrift. Der Text bezieht sich auf die faire Behandlung, die Fremden zuteil werden sollte, wenn sie in ein anderes Hoheitsgebiet kommen. Der Text erscheint als Fragment, als Bild. Obwohl das Plakat ein reines Textplakat ist, vermittelt es - üblichen Werbestrategien diametral gegenläufig - zunächst einen überwältigenden Eindruck der Unverständlichkeit, der die unterschiedlichsten Reaktionen auslösen mag. In der linken unteren Ecke des Plakates ist in roten, wesentlich kleineren, Buchstaben die Übersetzung der Textpassage abgedruckt: “Du sollst einen fremden Untertan, der vor seinem Herrn bei dir Schutz sucht, seinem Herrn nicht ausliefern. Bei dir soll er wohnen dürfen, in deiner Mitte, in einem Ort, den er sich in einem deiner Stadtbereiche auswählt, wo es ihm gefällt. Du sollst ihn nicht ausbeuten.”

Wachsmuth: »Der Entwurf ist aus dem Versuch heraus entstanden, mich selber als Person einzubringen. Ich habe mich gefragt: Was fange ich mit diesem assoziativen Begriff ‘Fremd’ an. Ich habe versucht, meine eigene Situation zu reflektieren: Was interessiert mich und was wäre meiner Meinung nach in diesem Zusammenhang notwendig. Diese Lösung ist nun ein Mittelding zwischen einer allgemeingültigen und einer persönlichen Aussage. Die hebräische Schrift hat mich auch aus einem anderen Grund gereizt. Meine erste Assoziation war zunächst unmittelbar eine zum Sachverhalt ‘fremd’ und garnicht auf diesen bestimmten, inhaltlichen Ansatz bezogen. Es war die Überlegung: Wenn ich in einem Niederösterreichischen Dorf, auf dem Land, bin, was ist dort wirklich fremd? Auf diese Weise kam ich auf diese Schrift als Zeichen, und dann erst, bei der Weiterentwicklung des Entwurfs, auch auf die engeren thematischen Implikationen. Ich stellte fest, daß beim erstmaligen Sehen das Plakat womöglich absolut befremdend wirken würde. Andererseits aber besteht ein derartiger Eindruck gar nicht zu recht, weil diese Schrift - vielleicht gerade am Land - bekannt war und ist. Man muß bedenken, daß man früher sehr wohl im öffentlichen Raum mit diesen Dingen konfrontiert war. Auch in der christlichen Ikonographie tauchte diese Schrift nicht selten auf, häufig wurden zum Beispiel in der Renaissance Gesetzesbücher in hebräisch verfasst. Es gab also keine Scheu, diese Schrift zu verwenden. Und als die Nazis den Schriftzug für den Judenstern entwarfen, haben sie diese Typographie kopiert, ‘Jude’ war genau in diesen dicken Kapitälchen geschrieben. Es hat nicht irgendeine Helvetica genügt, sondern es mußte noch in der Schrift etwas Klassifizierendes aus dem kulturellen Reservoir des Volkes sein, das man stigmatisieren wollte. Diese Doppelbedeutung habe ich für das Thema ‘Fremd’ als passend erachtet.
Ich bin sicher, es wird verschiedene Reaktionen geben, die man ähnlich auch von anderen Projekten kennt - z.B. im Zusammenhang mit dem Film von Ruth Beckermann, ‘Jenseits des Krieges’. Dieser Film ist eigentlich nur die Dokumentation von Kommentaren und Reaktionen von Besuchern einer Ausstellung, nicht mehr. Der Film kommentiert diese Einstellungen nicht einmal - genauso wie auch die betreffende Ausstellung selbst operiert. Ich glaube, aggressive Reaktionen werden unweigerlich kommen. Es gibt in dieser Sache einfach ein schlechtes Gewissen. Nicht, daß mich das so besonders interessiert, aber es ist automatisch vorhanden - und ich habe es auch bei sogenannten aufgeklärten Freunden meiner Generation festgestellt. Unweigerlich ist immer dieser Rattenschwanz von Assoziationen und Diskussionen und der Diskurs von der unbewältigten Vergangenheit mit dabei. Der Text widmet sich inhaltlich der Behandlung von Flüchtlingen und trifft somit auch die zeitgenössische Situation. Gerade jetzt ist die zweite Novelle der Ausländergesetze durchgegangen. Aber der Text bezieht sich auch auf die Menschen, die vor Jahrhunderten Flüchtlinge waren oder etwa in den 20er, 10er Jahren, als die russischen und slawischen Juden nach Wien kamen. Das war ein Einschnitt von großer Bedeutung für die Stadt. Das Plakat meint also beide - sowohl die Vergangenheit wie selbstverständlich den gegenwärtigen Zustand. Es kann wirklich jeder zum Füchtling werden. Eine wichtiger Aspekt der Arbeit ist auch, daß ein ganzer Kulturraum angesprochen wird, ein spiritueller Bezug, der über das Geographische hinausgeht. In früheren Zeiten war diese Textpassage ein absolut zu befolgendes Gesetz. Diesen gemeinsamen Nenner der Religionen und Gemeinschaften gibt es heute nicht mehr. Mit dem Plakat ist demnach auch eine Erinnerung an eine historische Situation verknüpft. Aber wie gesagt gibt es genauso heute wieder eine Situation, in der dieser Text seine Relevanz hat - eine Situation, in der zum Beispiel derartige Ausländergesetze gemacht werden.
Ich arbeite bei diesem Projekt zum ersten Mal im Medium Plakat. Das ist ein wenig das Problem derartiger Projekte: Es gibt eine vorgegbene Strategie und es gibt ein vorhandenes Medium. Im besonderen, wenn das Medium, wie in diesem Fall, eine absolute Einwegkommunikation betreibt. Das wird ja auch an der Werbung kritisiert: Sie bietet keine Möglichkeit der Reaktion, man selbst kriegt immer mehr ab, man selbst muß immer mehr aufnehmen, als man ausdrücken kann. Da hat es die Kunst vielleicht noch gut, weil sie sich immer in irgendwelche andere Mechanismen hineinschwindeln oder andere Strategien einfach übernehmen kann.« top


Claudia Lutze

Claudia Lutze trägt drei verschiedene Plakate bei. Sie zeigen jeweils unter dem Titel “mental map Europe” die Bleistiftskizze eines Bezugsgeflechts, das als ‘Europa’ gelesen werden kann. Unter der Bezeichnung “mental map Europe” verweist der Begriff ‘Dokument 1’ auf einen umfassenderen Forschungsrahmen, auf die Tatsache, daß es vermutlich eine ganze Serie solcher Dokumente gibt (das wird auch schon dadurch deutlich, daß drei verschiedene Versionen dieses ‘Dokument 1’ auf den Plakaten zu sehen sind). Unten rechts auf den Plakaten steht in einem Kasten der Index, der aus einem Zahlencode, einer Ortsbezeichnung und einer Jahreszahl besteht. (Sarajevo 1996, Berlin 1985, Lapland 1997). Die gezeichneten Linien auf den Plakaten sind äußerst filigran, sie sind spontane persönliche Protokolle von geographischen, geopolitischen oder auch emotionalen Bezügen, die von der Seite der Betrachter die verschiedensten Lesarten zulassen. Der formale Aufbau dieser Plakatflächen widerspricht natürlich jeder konventionellen Werbelogik. Die großen weißen (leeren) Fläche der ‘Landkarten’ sind gerade durch den Charakter des Unfertigen, des Versuchs, auch ein Angebot und eine Aufforderung. Die drei Plakate sind Dokumente eines Projektes, an dem Claudia Lutze derzeit arbeitet. Sie betont, daß das wichtigste für sie an diesem Projekt sei, das Verfahren, das sie konzipiert hat, konsequent anzuwenden: In 15 verschiedenen Städten, die sie festgelegt hat, wird von ihr je 10 mal dieses Verfahren durchgeführt.

Lutze: »Ich sitze also an einem dieser 15 Orte. Irgendwann stehe ich auf und spreche jemanden an, bei dem ich das Gefühl habe, daß ich ihn ansprechen will, und daß er oder sie bereit sein könnte, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Ich stelle mich vor, in der Regel auf englisch, dann, daß ich Künstlerin bin, daß ich aus Wien komme und daß ich ein Projekt vor Ort durchführe. Dann sage ich die drei Worte, also den Namen des Projektes “mental map Europe” und frage die Person, ob sie bereit ist, im Rahmen dieses Pojektes Aufzeichnungen zu machen. Es gibt vier Werkzeuge: Das Papier, den Bleistift, das Mikrophon und das Tonband. Das Projekt ist anonym und natürlich freiwillig. Die Person willigt ein oder nicht, manche sagen auch: “In 10 Minuten” - z.B. wollen sie noch nachdenken oder ihre Sachen vom Tisch sortieren oder eine Freundin verabschieden. Ich sage ihnen auch, daß sie nicht alles machen müssen, wer nur zeichnen will oder schreiben, wer nur sprechen will, der spricht nur. Das ist nur ein Angebot. Das Wichtige ist, daß sie am Tisch sitzen, daß wir uns gegenüber sitzen und uns anschauen können. Ich sage den Leuten, daß ich selbst nichts sagen werde, daß es keine Fragen und keine Erwartungen von meiner Seite gibt, sondern nur diese drei Worte: “mental map Europe”. Manche nehmen den Bleistift und fangen an zu erzählen, oder es gibt andere, die setzen sich und produzieren Text.
Ich bin mir nicht so sicher, ob alle die drei Worte gleich verstehen. Im Deutschen bezieht sich das auch auf Mentalität. Aber ich lasse es bewußt offen, es gibt die drei Worte und es gibt die Werkzeuge. Manche fangen mit dem Strich auf dem Papier an, mit irgendeiner Linie oder einem Punkt, andere erzählen erst und fangen dann auf dem Papier an, manche erzählen auch nur, manche schreiben oder zeichnen fast ausschließlich und nutzen das Band nicht oder zeitversetzt. Man kann überhaupt nicht sagen, ob das eine besser oder schlechter ist, das will ich nicht beurteilen. Das leere Blatt ist auch ein Dokument und wird ebenfalls mit einem Index versehen. Das ist mir ganz wichtig, ohne Index könnte ich nicht arbeiten. Die Leute sagen in der Regel, wenn sie fertig sind, oder es wird einfach gestoppt - 2 mal 30 Minuten. Und dann passiert es ganz häufig, daß Du mit der Person noch zwei, drei Stunden zusammensitzt.
Das Verfahren funktioniert mit absolut Unbekannten und es funktioniert mit diesen drei Worten. Jeder denkt: Das ist ein Kontext, über den ich noch nicht nachgedacht habe. Aber ich habe das Gefühl, daß diese Person, die diese Aufzeichnungen vornimmt, das ernsthaft macht. Das hat mit gegenseitigem Vertrauen zu tun und einem Sich-gegenseitig-Ernstnehmen. Die ‘Dokumente 1’, die ich jetzt für die Plakate ausgewählt habe, rekurrieren stärker auf das Bild der Europakarten. Ich dachte, daß im ländlichen Raum diese Idee der Karte leichter zu transportieren wäre. Obwohl natürlich auch figürliche oder abstrakte Bilder entstehen - Gitter und Raster, bei denen es dem Zeichner etwa um Zeitkonzeptionen geht. Es gibt derartige Dokumente, die sehr interessant sind, aber für diese Plakataktion zu schwierig gewesen wären. Die zweite Überlegung für die Auswahl war, drei Beispiele zu nehmen, die aus eindeutig verschiedenen Perspektiven, Standpunkten oder Bewegungen aufgezeichnet worden sind. Also: Index Sarajevo, Berlin und Lapland. Und zum dritten waren die unterschiedlichen Praktiken ausschlaggebend, der Bleistiftstrich, der entscheidend ist und das Bild, das sich ergibt, das Wegemodell, der relativ homogenen Raum bei der anderen Zeichnung, in der so viel Information steckt, auch wenn sie sehr leicht aussieht. Und die dritte Zeichung, die am stärksten auf einen politischen Raum hinarbeitet, auf ein Zonenmodell. Vielleicht können Menschen auf dem Land diese Bezüge besser verstehen als die in der Stadt. Sie haben einen anderen Raumbezug und eine andere Geschwindigkeit. Vielleicht gibt es in diesem grenznahen Gebiet eine anderes gefühlsmäßiges Wiedererkennen: Da hat jemand eine Landkarte gezeichnet, wie würde ich selbst das machen?
Ich habe schon oft derartige Post bekommen - eine Frau schreibt, sie haben sich nach unserem Treffen vor den Atlas gesetzt oder das Verfahren mit irgendwelchen anderen Leuten durchgeführt. Es gibt also tatsächlich diese Multiplikation, die funktioniert. Es ist völlig egal, ob das ein ‘Kunstprojekt’ ist oder nicht. Vielleicht verstehen diejenigen es sogar schneller, die nicht im Kunstkontext stehen. Diese Plakate sind durchaus auch eine Art Werbung für ein Produkt, für einen Prototyp, ein Verfahren. Europa kennt eh` niemand.« top