Rainer Metzger
Benutzer und Oberflächen
Blinde Flecken und berechtigte Hinweise: Ein Beitrag zu der Frage "Wie erkenne ich Kunst?"
Im Jahr 1969, so gibt Vito Acconci in einem Gespräch mit Richard Prince zu Protokoll, "als mir klar wurde, dass es mit dem Schreiben für mich vorbei war, war das, was mich zur Kunst hinzog, die Tatsache, dass die Kunst ein Gebiet war, das eigentlich keines war, ein Gebiet, das keine inhärenten Eigenschaften hatte außer seinem Namen, außer der Tatsache, dass man es Kunst nannte: um Substanz zu haben, musste die Kunst also importieren. Sie importierte von allen anderen Gebieten." (Anm. 1)
Vielleicht ist jenes 1969, in dem Acconci seinen persönlichen Paradigmenwechsel vollzog, insgesamt ein Schlüsseljahr für fundamentale Veränderungen in dem Areal, das der Kunstbetrieb absteckt. Importieren, so erkannte Acconci, war die Strategie schlechthin, etwas heranholen, brauchen können, sich einverleiben und, wie man es später nennen wird, appropriieren. "Cross The Border, Close the Gap", rief der Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler in eben dem Jahr 1969 in die Menge und veröffentlichte sein Manifest bezeichnenderweise im "Playboy". (Anm. 2) Dieses Grenzen Überschreiten und Gräben Schliessen vollzog sich aus dem Geist der Pop Art, High und Low wurden verwischt, Individuen und Kollektive über einen Kamm geschoren, die alten Gattungsbestimmungen von Malerei, Skulptur, Musik über den Haufen geworfen und im Gegenzug all die Informationsträger, die nur irgendwie als Medium und für Botschaften taugten, nutzbar gemacht.
"January 5 - 31, 1969" hieß, betitelt nach ihrer Laufzeit, die Ausstellung, mit der Seth Siegellaub die Conceptual Art auf den Weg brachte. "The exhibition consists of (the ideas communicated in the) catalog; the physical presence (of the work) is supplementary to the catalog", schrieb Sieggelaub der Schau auf den Leib. (Anm. 3) Distribution überlagerte Produktion oder setzte sich für den heroischen Moment eines orthodoxen Glaubens an die Allmacht des Mediums gar an ihre Stelle. Fortan und bis heute wurde der Begleitband zum großen Kommunikator, ob explizit wie im Galeristen-Statement oder implizit wie im Großen und Ganzen der Ausstellungen seit 35 Jahren.
Es gab ein Dreieck plötzlich, wo einst die Autorität des Werkes stand, die Trias von Produktion - Distribution - Rezeption, und man hat sich im Triangel zurechtzufinden, wenn es um Kunst der Gegenwart geht. Ebenfalls im Jahr 1969 hat Victor Burgin dem Phänomen einen Namen gegeben: "Situationsästhetik"."Die Definition von Kunst", so schreibt er in seinem Essay gleichen Titels, "baut auf der Erkennbarkeit von Hinweisen auf, die signalisieren, dass jener Typus von Verhalten an den Tag gelegt werden muss, den man ästhetische Wertschätzung nennt." (Anm. 4) Kunst steht und fällt mit der "recognition of cues". Und es war an der Zeit auszureizen, was alles durchgeht an Hinweisen und alles möglich ist an Bereitschaften. Ein uralter Mechanismus stellte sich auf den Kopf. Die klassische Frage der Moderne, wie sich der Alltag in der Kunst bewährt, erfuhr nun ihre Inversion: Wie bewährt sich Kunst im Alltag.
Früher schon, die zwei Jahrhunderte vorher, hatte sich die Kunst im Grenzen Überschreiten geübt. Doch konnte, musste sie dabei auf etwas setzen, was man den Ready made-Effekt nennen könnte. Bei aller Geste der Transgression blieb sie hängen an der Nabelschnur des Betriebs. Dazu drei Beispiele. (Anm. 5)
- Das vielleicht früheste Exemplar einer künstlerischen Arbeit, die Grenzen überschritt, indem sie als PR-Aktion daherkam, ist Antoine Watteaus sogenanntes "Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint". Watteau malte es für seinen Galeristen im Jahr 1720, und in der Tat hing es im Freien, draußen vor der Tür des Ladens, und zeigte, was es innen gab: Bilder, Käufer und Mitarbeiter des Geschäfts, der ganze geschlossene Kreislauf von Instanzen der Produktion, Rezeption, Distribution. Und doch ist Watteaus Werk erst durch seine Geschichte zu dem geworden, was es heute ist. Es wurde buchstäblich geadelt dadurch, dass Friedrich der Große es kaufte und in Schloss Charlottenburg dem angestammten demonstrativen Konsum des Absolutismus zuführte. Wer weiss, wo und was das Bild wäre, hätte nicht Preussens König die Konventionen widerhergestellt und es zum Sammlerstück zurückverfügt. (Anm. 6)
- Einen Schritt weiter und eine Reflexionsebene höher geht Edouard Manet mit seiner "Nana" von 1877. Nachdem er mit seinem Prostituiertenporträt einmal mehr vom Salon zurückgewiesen worden war, stellte Manet das Bild in der Galerie Ginoux am Pariser Boulevard des Capucines aus - allerdings nicht in den Räumen der Kunsthandlung, sondern in deren Schaufenster. Die Frau von der Straße, als die Nana unmissverständlich und immer noch skandalträchtig ausgewiesen war, bekam ein Bild für die Straße. Doch war das Werk bei allem Optimismus der Veröffentlichung jener Instanz verhaftet, die damals Ausweis alles Avancierten war: dem Milieu, dem Areal der Künstler, Kenner, Kurtisanen, die das Paris dieser Zeit ästhetisch dominierten. (Anm. 7)
- Im Milieu stecken blieb auch Henri de Toulouse-Lautrec mit seinen Plakaten, die er für das gerade eröffnete Moulin Rouge oder die Kabarettbühne Le Mirliton entwarf. Durchaus im Geiste eines Werbegrafikers machte er sich die Bewegungs-, Fragment- und Beschleunigsungsästhetik seiner Zeit, die Bildprinzipien von Degas oder Seurat zu eigen, um sie in Reklame zu übersetzen. Doch er war erfolglos. Er war erfolglos, weil seine Plakate bestenfalls als Kunst, aber nicht als Werbung funktionierten. Sie waren, wenn überhaupt, nur im Sammlerkreis verkäuflich. Ihr Ort war gerade nicht die Litfasssäule, nicht die Öffentlichkeit der Massenkommunikation. Rezeption und Distribution dieser so aufregend gedachten Produktion blieben weitgehend im Rahmen dessen, was etabliert war. (Anm. 8)
Das Ausgreifen in den Alltag, die Koketterie mit dem Situativen gehört in diesen Beispielen zweifellos zum Plan, und man wird ihnen eine gewisse Vorläuferrolle nicht absprechen. Doch waren und blieben sie umfangen, eingepasst, zurückgeholt in die Rahmenbedingungen des ästhetisch Konvenienten. Ihre Erkennbarkeit als Kunst war nicht wirklich das Problem. Nur weil sie als jene Kunst durchgingen, die zu ihrer Zeit eben en vogue war, konnten sie je nachdem als Sammlerstück, als Skandalon, als Originallitho verstanden werden.
Heute nun geht eine Ausstellung ganz selbstverständlich nach Außen, besetzt Wände und Flächen, wie sie für Werbung zur Verfügung stehen und bietet sich in Gestalt eben jener Großplakate dar, die sie für den Moment eines Monats ersetzt. Diese Überlagerung, diese Aufpfropfung ist ganz aus dem Geist der 69er. (Anm. 9) Das seither abgezirkelte Dreieck von Produktion-Rezeption-Distribution wird einmal mehr und profunder denn je auf seine Triftigkeit befragt. Alles ist darauf angelegt, als Situationsästhetik zu funktionieren: Die Plakate sind speziell für den Ausstellungszusammenhang entworfen, sie erscheinen 800fach im öffentlichen Raum Niederösterreichs, und warten nun darauf, wahrgenommen zu werden. Wahrgenommen zu werden als Reklame, wahrgenommen zu werden als Störung oder Ärgernis, wahrgenommen zu werden als Nichtigkeit, wahrgenommen zu werden womöglich als Kunst. Es geht also und es geht gerade um die "recognition of cues". Was die Arbeiten von Blind Spot als Erbe mit sich tragen ist die Auflösung allzu deziderter Hinweise, ist die Nonchalance, mit der sie auch nicht Kunst sein können, ist die Möglichkeit, im steten Fluss des Kontingenten unterzugehen und nichts anderes zu sein als ein Phänomen unter Phänomenen. Dieses Erbe ist unhintergehbar. Man kann es annehmen oder so tun, als sei da nichts. Blind Spot jedenfalls nimmt es an.
Nun ließe sich einwenden, dass die Bilder der Ausstellung genügend Angebote liefern an eine Wahrnehmung als Kunst.
- Es ließe sich zum Beispiel sagen, dass die Arbeiten die einschlägige Formel von Roland Barthes über das Funktionieren von Werbung geradewegs ins Gegenteil verkehren. Sie sind nicht als PR-Propaganda missverstehbar, denn sie sind vieldeutig, polysemisch, multipel, während Werbung doch alles auf die Simplizität von Verstehen bringt; oder wie Barthes schreibt: "Die diskontinuierliche Welt der Symbole taucht in die Geschichte der denotierten Szene ein wie in ein Unschuld spendendes reinigendes Bad." (Anm. 10).
- Es ließe sich auch darlegen, dass die Bilder allzu offensiv mit der Gefahr umgehen, unerkannt zu bleiben, um dieser Gefahr wirklich zu erliegen. Die Ausstellung hat die Aufmerksamkeit für das Entropische längst eingearbeitet, die Problematik der Gleichmacherei, die selbst in den späten Sechzigern aufs Tapet kam, die Konzentration auf das Aporetische jeder und damit auch der künstlerischen Arbeit, die die Welt ordnen will, aber Chaos produziert. Die Provinz mit der Urbanität avancierter Bildlichkeit zu überziehen, hat ihrerseits etwas Gleichmacherisches. Und die Bildmotive, die etwa von der Trostlosigkeit des Hausens und Behausens in der Gegenwart erzählen, zeigen einen Status Quo der Nivellierung auf einen physisch-physikalischen Durchschnitt. (Anm. 11)
- Es ließe sich schließlich entgegenhalten, dass alles institutionell abgesichert ist und der oben apostrophierte Ready made - Effekt nach wie vor sein Wesen treibt. In der Tat ist gerade Niederösterreich gleichsam ein Paradies an öffentlichem Raum, mit vielfältigem Projekte Machen und Interventionen Setzen. Und natürlich sind die diversen Aktivitäten, die seit den späten Sechzigern den Public Space in Aufruhr halten, nur möglich geworden durch eine Ausweitung des Verfügungsbereichs von Kunst auf potentiell alles und latent jeden. Insofern ist es nicht weiter schwierig, mit dem einschlägigen Begriff aufzuwarten: Wenn man nicht weiß, was es ist, dann ist es Kunst. (Anm. 12)
Diese Einwände sind allesamt richtig, und das einzige, was sie entkräftet, ist die Tatsache, dass sie von jemandem stammen, der der einschlägigen "recognition of cues" schon erlegen ist. Das vielbeschworene, vielgerühmte und längst auch vielsubventionierte Prinzip Kunst im öffentlichen Raum hat den Mechanismus verschärft, nach dem Kunst allein über den Zirkelschluss funktioniert. Kunst, sagt Walter Benjamin, entspricht weniger einem Denken des Ich als einem Denken des Selbst. Und in der Tat: Wer die Dinge als Kunst wahrnimmt, legt Wertschätzung an den Tag. Wer Wertschätzung an den Tag legt, definiert, wie Burgin schreibt, Kunst. Nur wer den Dingen den Kunstcharakter versagt, fühlt sich von ihnen provoziert, nur dem gehen sie auf die Nerven, nur der blickt an ihnen vorbei. Die brachiale Eingangsfrage "Wie erkenne ich Kunst" erfährt somit abschließend eine orakelhafte Wendung: "Erkenne dich selbst". (Anm. 13)
Anmerkungen:
1. Zitiert nach Vito Acconci, The City Inside Us, Katalog Österreichisches Museum für Angewandte Kunst 1993, S. 164.
2. Der Text ist auf deutsch am besten zugänglich in: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne, Ed. Wolfgang Welsch, Weinheim 1988.
3. Basisinformationen zur Gründungsschau der Siegellaub-Group, bestehend aus Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph Kosuth und Lawrence Weiner, in: Lucy Lippard, The Dematerialization of the Art Object, New York 1973, S. 71 - 74.
4. Victor Burgin, Situational Aesthetics; in: Studio International, October 1969; der Satz im englischen Original: "The definition of art relies upon the recognition of cues which signal that the type of behaviour termed aesthetic appreciation is to be adopted."
5. Ausgespart bleiben hier die vielfältigen Dokumente der sogenannten Monumentalkunst, der als Fresken, Kathedralplastiken, Denkmäler oder Glasmalereien inszenierten Bilder, die der politischen und religiösen Propaganda dienten. Sie waren Massenkommunikation, ohne Frage, doch stellten sie nicht, mit dem berühmten Gegesatzpaar von Jürgen Habermas, Öffentlichkeit her, sondern standen selbst für jene Sphäre eines metaphysisch abgesicherten Ganzen, das nur noch akklamiert, aber nicht diskutiert und schon überhaupt nicht in Frage gestellt werden konnte (zum Gegensatzpaar: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt/Neuwied 1962). Ausgespart bleiben auch die diversen Grafiken, die als Flugblätter, antipäpstliche oder antireformatorische Agitation, als Kriegs- und Anti-Kriegspropaganda massenhaft vertrieben wurden. Sie sind erst ins Visier der diversen Verwalter dessen, was als Kunst gilt, geraten, als durch die Ereignisse der Sechziger Jahre das hier beschriebene Problem reflektiert worden ist. So gesehen sind diese Blätter erst mit der Situationsästhetik Kunst geworden.
6. Vergleich dazu Watteau 1684 - 1721, Katalog Washington/Paris/Berlin 1984/85, S. 447 - 457.
7. Vergleiche dazu wahrlich erschöpfend Werner Hofmann, Nana. Eine Skandalfigur zwischen Mythos und Wirklichkeit, Neuausgabe Köln 1999.
8. Zu Lautrecs Plakaten kursiert seit fünfzehn Jahren der Katalog der Sammlung Gerstenberg, herausgegeben von Götz Adriani, Erstausgabe Köln 1986.
9. Zum Begriff der Überlagerung oder des Palimpsestes vergleiche Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982; zum Begriff der Aufpfropfung, französisch "la greffe", vergleiche Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972.
10. Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, im Original 1964; in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt 1990, hier S. 45.
11. Zum Problem des Entropischen vergleiche The Writings of Robert Smithson, Ed. Nancy Holt, New York 1979, sowie die Fundamentalkritik von Rudolf Arnheim, Entropy and Art, Berkeley/Los Angeles/London 1971.
12. Siehe dazu vor allem Benjamin H. D. Buchloh, Conceptual Art 1962 - 69; From the Aesthetics of Administration to the Critic of Institutions; in: October 55, Winter 1990.
13. Der Satz Benjamins aus seiner Dissertation "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik"; in: ders., Versammelte Schriften, Band I.1, Frankfurt 1980, S. 29. Zum Charakter von Kunst als zirkulärem Phänomen nur zwei Lektürehinweise: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Ed. Manfred Frank, Frankfurt 1977, sowie Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt 1999.
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