Martin Strauß

Einleitung


In den letzten Jahren gab es eine kontinuierlich steigende Zahl von künstlerischen Einschaltungen in ein Massenmedium, das sonst ausschließlich der werbenden Wirtschaft zur Verfügung steht – dem Großplakat. Verschiedenste Kunstvermittler, aber auch KünstlerInnen in Eigeninitiative, machten es möglich, daß in einen gesellschaftlichen Raum, der sonst exklusiv von Werbeästhetik bestimmt wird, ganz andere, nämlich künstlerische Formen der Kommunikation eindringen. Freilich sind derartige Interventionen nichts prinzipiell Neues, vielmehr reichen die ersten Projekte von Künstlern, die sich dieses Mediums bedienten, zurück in die sechziger Jahre und die Konzeptkunst jener Zeit. Seither haben sich die Umstände für die Kunst wie die Diskurse innerhalb des Kunstbetriebs gewandelt. Eine kritische Reflexion der Kunstinstitutionen geht einher mit dem verstärkten Interesse für die Kunst im öffentlichen Raum. So sind die heutigen Plakataktionen von KünstlerInnen, die nun nicht selten – wie kommerzielle Kampagnen in hohen Stückzahlen gestreut – tatsächlich ein Massenmedium bespielen, eingebettet in eine allgemeine Tendenz der Kunst, die von der hermetischen Arbeit am Kunstbegriff sich verabschiedet und stattdessen eine Orientierung an sozialen Zusammenhängen gibt. Über den Gegenstand liegt bislang kaum Literatur vor, geschweige denn eine allgemeine Problematisierung und Gesamtschau. Und dies, obwohl er durchaus in den Rahmen aktueller Diskussionen um Kunst im öffentlichen Raum, Public Art, Kontextkunst etc. gehört und obwohl eine Reihe heute prominenter KünstlerInnen durch Plakataktionen besonders hervorgetreten sind oder vorwiegend mit und in diesem Medium arbeiten. Dieses Buch möchte das Thema erstmals in einer umfassenderen Weise darstellen.

Vor dem Hintergrund der sozialen Abgeschlossenheit des Kunstbetriebs, die mitunter als einengend und beschränkend erfahren wird, scheint die Verwendung eines Massenmediums ein Wiederöffentlichwerden der – so Kritiker – esoterisch gewordenen Kunst zu ermöglichen. Schon die ersten Ausflüge von Künstlern in das fremde Terrain der städtischen Großplakate, vor mittlerweile dreißig Jahren, waren unter anderem motiviert durch eine Kritik der etablierten, angestammten Orte der Kunst und dem Versuch, sich von diesen – zumindest teilweise – zu emanzipieren. Der Begriff der „Kunst im öffentlichen Raum“ stammt denn auch aus dieser Zeit. Seither spielt, wenn KünstlerInnen sich mit Plakaten an ein breiteres Publikum wenden, stets auch jener exoterische Impuls eine Rolle: als einfacher Wunsch nach größerer Bürgernähe oder, ideologisch gemünzt, als Forderung nach einer „demokratisierten“ Kunst. Zugleich ist damit ein Problem berührt, dem sich generell die Kunst im Freien heute zu stellen hat. Wenn nach „einem Jahrhundert der Verbannung in die Museen“ (so Daniel Buren in einem jüngeren Text) sich die KünstlerInnen wieder aufmachen, die Enklave manchmal zu verlassen und die – auch selbstgewählte – Klausur wenigstens zu unterbrechen, so hängt ihnen gewissermaßen die in langen Jahren eingeübte und eingefleischte Gewohnheit an den Fersen, nur für ein bestimmtes, (oft) sachkundiges Publikum zu arbeiten. Und ebenso stellt sich für sie dann die Aufgabe, von der überkommenen Fixierung auf die Wahrnehmungsmodi und -konventionen des Museums, den Bedingungen des „white cube“, sich zu lösen.

Obwohl zwar der simple, bloße Transfer vom Galerie- in den Außenraum – die Bilderausstellung an der Straße – nur selten noch unternommen wird (und nicht Thema dieses Buches ist), bleibt doch auch bei der aktuellen künstlerischen Verwendung des Plakats eine unterschiedliche Zurichtung und Gewichtung zu beachten, die sich heute, von Fall zu Fall, irgendwo innerhalb eines Feldes zwischen zwei Polen festmacht: Auf der einen Seite die Aktionen, die gezielt ein öffentliches Medium zu einer tatsächlichen Verbreitung und Ausweitung der künstlerischen Kommunikation nutzen und den allgegenwärtigen Kontext der Sprache und der Ästhetik des Kommerz bewußt mitreflektieren; auf der anderen Seite jene Plakate, die zwar eine vielseitigere Lesbarkeit gegen die eindimensionale Verfaßtheit ihres unmittelbaren Umfelds, der Werbung, geltend machen, dabei jedoch eine mehr oder weniger große Vorinformiertheit, eine besondere Disposition seitens der Betrachter stillschweigend voraussetzen und unterstellen. Mehr oder weniger bewußt an eine eingeschränkte ‘Zielgruppe‘ adressiert, rechnen derartige Arbeiten auch auf der Straße nur mit der kleinen Minderheit des eingestimmten Kunstpublikums – das „Kunstspiel“ wird bloß nach draußen verlegt. Freilich soll hier vorab keine Wertung für oder gegen bestimmte künstlerische Strategien ausgesprochen werden, und es ist gewiß nicht verwerflich, daß Kunst auch dort internen Handlungsgrundlagen und Problemstellungen folgt, oder manchmal sogar völlig einem, sozusagen aus dem Museum mitgebrachten, selbstreflexiven Modell verpflichtet bleibt: „Kunst über Kunst“. Die Frage nach dem Publikum – die Frage: Wie öffentlich ist die öffentliche Kunst wirklich? – sei deshalb nur schon betont, weil in der kunstspezifischen Rezeption in der Regel die – im soziologischen Sinn – systeminterne Kommunikation absolut gesetzt wird: Das Milieu begreift sich wie selbstverständlich und nach wie vor als den eigentlichen Adressaten auch der Kunst im Freien. Das Maß der „kommunikativen Kompetenz“ der Kunst hinsichtlich eines größeren Publikums, dem sie sich dort ja willentlich konfrontiert, ist darum meist der blinde Fleck im diesbezüglichen betriebsinternen Diskurs.

Zudem ist das Plakat als Medium, im Vergleich zu anderen sozialen Bereichen, für die Kunst ein ganz besonderer Kontext. Obgleich man mit Recht davon sprechen kann, daß im fortgeschrittenen Kapitalismus überhaupt keine gesellschaftliche, öffentliche wie private Sphäre mehr existiert, die nicht von kommerziellen Faktoren wenigstens mitbestimmt wäre, so stellt doch das städtische Plakat einen Extremfall heutiger Massenmedien dar: Abgesehen von der politischen Werbung der Parteien, während der Wahlkämpfe, dient es ausschließlich wirtschaftlichen Interessen – es ist Reklame pur. Wenn immer Kunst sich im Medium Plakat bewegt, setzt sie sich, mehr als in allen anderen öffentlichen Räumen, einem ganz einseitig disponierten Umfeld aus – wenn von Kunst (und) Plakaten die Rede ist, steht stets auch das prekäre Verhältnis der Kunstsache zu einem dominanten kommerziellen Kontext zur Verhandlung. Deshalb richten, aus unterschiedlicher Perspektive, mehrere Beiträge der vorliegenden Publikation ihre hauptsächliche Aufmerksamkeit auf diese Rahmenbedingungen und unterstreichen einerseits nicht nur die strukturelle Diskrepanz zwischen einer Plazierung von Kunst in einem sogearteten Zusammenhang und jener Präsentation, wie sie gewöhnlich in den Ausstellungen stattfindet, sondern heben dann gerade auch den Abstand zu anderen Formen der Kunst im Freien hervor.

Einer Kunst gegenüber, die hier nicht nur Reklame sein will – für sich (als Ausstellungsplakat) oder gleich im Dienst der Wirtschaft –, beginnt eine kritische Untersuchung meist bei den Strategien, die sie, auf je unterschiedliche Weise, ermächtigen sollen, innerhalb dieser Rahmenbedingungen kommunikativ zu bestehen. Das betrifft vor allem die Frage nach der Form: Findet eine Annäherung an die Werbeästhetik statt, oder ist im Gegenteil eine gezielte formale Distanz das Mittel der Wahl? Im besten Fall reflektieren beide Möglichkeiten in ästhetischer Hinsicht ihren gesellschaftlichen Ort, den Kontext der Werbung, ohne aber in eine Abhängigkeit von ihm zu geraten, sondern vielmehr, um eigenmächtige Ziele zu verfolgen. Eine direkte Appropriation der medientypischen Formalien etwa, wie sie zum Beispiel häufig im Rahmen der Kampagnen von „Act Up“ Anfang der neunziger Jahre in den USA eingesetzt wurde, war eine probate Waffe, um einer sozialen Diskriminierung – derjenigen von Aidskranken – entgegenzuwirken oder überhaupt dieses (damals) tabuisierte Thema einer möglichst breiten Öffentlichkeit zuzumuten. Nicht die ästhetische Form ist bei solchen Interventionen das Ungewöhnliche, sondern die Verknüpfung der konventionellen Bildsprache mit einer im Medienkontext ganz unvermuteten, politisch provokanten Meldung. Diese heutige Art der Collage bedient sich parasitär bei bekannten, durch langjährige Gewöhnung ökonomisch erfolgreichen Signalen der Warenästhetik, um in einer gesellschaftspolitisch motivierten Auseinandersetzung möglichst erfolgreich für die eigenen Zwecke Wirkung zu machen. Das Werbestereotyp wird als gegebenes Muster, als effizientes Instrument aufgefaßt und zum Vehikel für ganz andere Botschaften umfunktioniert – zur Steigerung der eigenen kommunikativen Schlagkraft.
Die Verwendung werbemäßiger Formeln kann allerdings ebenso in einer auf diese Klischees selbst bezogenen kritischen Absicht unternommen werden: Der Glanz der kommerziellen Images soll desavouiert und als unglaubwürdig entlarvt werden – es wird gewissermaßen versucht, das Stereotyp mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen. In der PR-Branche gibt es übrigens eine gängige Faustregel für das ‘Werbemittel’ Plakat: „Hübsche Frauen, Tiere und kleine Kinder“, wohl die treffendste Beschreibung von Programm und Status Quo des Plakatmediums, wie es sich heute darstellt. Inmitten eines Feldes also, das durch eine fortlaufende Aneinanderreihung solch frisierter Bilder ausschließlich bestimmt ist, muß dann aber durch irgendeine Differenz, eine Veränderung, Übertreibung oder andere Eigenschaft der Abstand zum unmittelbaren Kontext ästhetisch deutlich gemacht werden. Der Störenfried muß sich kenntlich, der Eindringling muß anschaulich machen: Der schöne Schein leuchtet hier nur zum Schein. Ist jene Differenz zu gering, ist der Sog des Stereotyps zu stark, geht der kritische Stachel unter im attraktiven Einerlei der Umgebung; was Sand im Getriebe des Oberflächlichen sein wollte, treibt genauso obenauf. Daß ein solches künstlerisches Vorgehen – die Kritik einer medialen Ordnung im Medium selbst – sich riskant auf einen schmalen Grat des Gelingens begibt, zeigten prominent die sehr kontroversen Einschätzungen zu Rosemarie Trockels Kampagne „Beauty“, die 1995 in Wien realisiert wurde. Trockel ließ Porträtaufnahmen von professionellen Models herstellen, die Fotos am Computer manipulieren – alle Gesichter wurden mit Bildbearbeitungstricks jeweils zu einer perfekt symmetrischen Erscheinung gefügt –, und plazierte die so verfremdeten Sujets, in verschiedenen Gruppierungen, zwischen die Werbeplakate. Obwohl die Anmutung des Synthetischen, Artifiziellen nur unterschwellig wirkte und auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar war, honorierten etliche Kritiken das Herausstellen einer „offenkundigen Künstlichkeit“ dieser Schönheiten oder schrieben den Bildern gar eine unheimliche Austrahlung zu. Anderen Stimmen jedoch war im Gegenteil die besagte ästhetische Differenz zu gering und zu wenig augenfällig. Sie nahmen darum der Künstlerin sozusagen die kritische Intention nicht ab und beanstandeten, daß Trockels Arbeit lediglich an der „Geltungsmacht aktueller Schönheitsnormen“ partizipiere, diese nur wiederhole und weitertrage: Schönheit wäre hier gerade nicht als gesellschaftliche Konstruktion dargestellt, vielmehr würde ihre fälschliche „Naturalisierung“ vorangetrieben – der übliche Universalienverdacht aus dem Kanon des postmodernen Diskurses. Ungeachtet, wie immer in einem solchen oder ähnlichen Fall man urteilen mag, verweist ein derartiger Disput auf ein allgemeines Charakteristikum des Mediums, das gewöhnlich mit dem Begriff des „Plakativen“ benannt wird. Wenn mit diesem Wort die schnelle, unmittelbare Wahrnehmbarkeit oder Lesbarkeit eines ästhetischen Produkts zum Ausdruck kommt, ist jedoch mehr die Beschaffenheit eines Bildes selbst, dessen eigene Qualität, bezeichnet, und es ist weniger das Augenmerk auf denjenigen Umstand oder diejenige Größe gelenkt, die für unseren Zusammenhang wesentlicher und bedeutsamer zu sein scheint – den speziellen, zugespitzten Modus der Beobachtung, auf den das Plakatmedium insgesamt mittlerweile konditioniert ist: Für ein Werbeplakat stellen Kommunikationswissenschaftler heute eine durchschnittliche Rezeptionszeit von nicht einmal zwei Sekunden fest. Längst nicht der Flaneur, der vor den Schaufenstern oder den Bildern an der Straße verweilt, kann in der Gegenwart als prototypische Figur öffentlicher Wahrnehmung noch gelten, sondern der gehetzte Passant und vor allem der vorbeifahrende Mensch im Auto, der sich schwerlich die Zeit für mehr als nur einen kurzen Blick zu nehmen vermag. Gegenüber einem so verfassten Wahrnehmungsfeld stellt sich für die KünstlerInnen die Frage, ob sie diesem vermeintlichen oder tatsächlichen Zwang zum Plakativen entsprechen und sich unterordnen: Verfehlt in diesem Kontext die künstlerische Arbeit ihre Rezeption, wenn sie sich der – hier sonst gewohnten – einfachen Verständlichkeit verweigert? Oder bietet im Gegenteil diese Abrichtung des Mediums gerade der Kunst einen besonderen Freiraum und – im Vergleich zum Museum – ein Feld ganz neuer Bezugsmöglichkeiten? Den Traditionalisten übrigens, die in diesen Rezeptionsbedingungen gern einen Beweisgrund ihrer Aversion gegen den Trend der Kunst in den öffentlichen Raum sehen möchten und einen Beleg für ihre These vom Museum und der Galerie als den eigentlichen, angemessenenen Orten der Kunst, kann das Faktum dennoch kaum als Argument dienen. Aus entsprechenden Studien zum Wahrnehmungsverhalten des Publikums in den Kunstausstellungen geht hervor: Auch dort ist die Konzentration auf den ästhetischen Gegenstand nicht viel höher, auch da wird nicht länger hingeschaut.

Wird die Notwendigkeit eingeräumt, im Plakatmedium – um sich überhaupt bemerkbar zu machen – ebenfalls zu ‘plakativen’ Mitteln zu greifen, ergibt sich dann allerdings die Frage, ob damit gleichermaßen eine Einengung verknüpft, ob auch für die Kunst hier eine Reduzierung der Komplexität erforderlich ist: Handeln sich die KünstlerInnen mit ihrem Begehr, ein Massenmedium für ihre Absichten zu nutzen, die Nötigung zum Oberflächlichen ein? In diesem Punkt kommt als erstes zum Tragen, daß die Kunstplakate eine andere Regel des Mediums unterlaufen und sich absetzen: Sie sind fast immer absenderlos, eine Eigenschaft, die zunächst selbstverständlich und kaum relevant erscheinen mag, die ihnen jedoch innerhalb des medialen Kontexts sofort eine Ausnahmestellung verleiht und – wichtiger noch – starke Konsequenzen für ihr kommunikatives Potential hat. Weil dagegen die werblichen Plakate stets einer reziproken Koppelung, geradezu einem Ineinanderfallen von Absender und Botschaft – konkret: von Markenlogo und Werbebild – verpflichtet sind, unterliegen alle anderen Konnotationen, die zufällig oder eventuell gewollt auch dort angelegt sein mögen, dieser Fixierung auf den Adressanten: Alle Wahrnehmung ist – und dies ist von den Werbeleuten so auch gewünscht: das Plakat soll ja angebliche Qualitäten des Produkts vemitteln – auf diesen Generalnenner der Marke bezogen und von ihm abhängig; alles dient da der interessierten Herstellung jener Fiktion, die die Branche „Produkt-“ oder „Markenidentität“ nennt. Bedingt durch ihren bloß wirtschaftlichen Zweck, der ihnen wie eine Kette anhängt, sind darum die Werbesujets – wir alle sind im tagtäglichen Umgang damit vertraut – immer von einer gewissen plumpen Direktheit gezeichnet. Im besten Fall noch werden sie durch einen witzigen Slogan auffällig. Bleibt der Adressant jedoch anonym, wird das Bild frei gemacht von der zurichtenden Verbindung mit seinem Absender, die jegliche Aussage kommerziell domestiziert, erwächst ihm schon von daher die Möglichkeit, einen breiteren Bedeutungshorizont aufzuziehen. Vor allem aber sind es ihre kommunikativen Strategien selbst, die die Kunstplakate, auch wenn sie Formen des gewöhnlichen Grafik-Designs übernehmen, in Distanz zur einfältigen Orientierung ihrer Umgebung bringen. Mit verschiedensten Mitteln, angefangen bei einem weit komplexeren Verhältnis zwischen Bild- und Textebene (als Beispiele unter vielen seien hier die Arbeiten von Barbara Kruger und Les Levine erwähnt) bis hin zu „minimalistischen“ Strategien der Informationsverweigerung (wie etwa bei etlichen Plakatsujets von Felix Gonzales-Torres), die ein offenes Feld der Interpretierbarkeit bereitstellen, versuchen die KünstlerInnen der simplen Lesbarkeit der Werbesprache ästhetische Produkte entgegenzusetzen, die vielschichtige Möglichkeiten der Bedeutung anbieten und so dem Plakat insgesamt eine neue Dimension zukommen lassen. Vielleicht kann in dieser Hinsicht deshalb Barbara Krugers Kommentar zu ihrer eigenen Verfahrensweise als gemeinsames Motto für die heutigen Plakatinterventionen von KünstlerInnen gelten: „Die Formalien des Spektakels nehmen und ihnen Sinn eingeben.“

Daß bei Projekten in diesem Medium, mehr noch als bei anderer Kunst im öffentlichen Raum, die Auszeichnung als Kunst an Gewicht verliert, scheint so unumgänglich wie evident. Für die AktivistInnen, die bei ihren politisch orientierten Plakaten – und überhaupt mit der Verwendung eines Massenmediums – vorwiegend auf eine, im Vergleich zu den Kunstinstitutionen expansive, gesellschaftliche Wirkung hoffen, ist eine derartige Einschätzung ohnehin irrelevant: Der soziale Effekt, den sie erzielen wollen, steht an erster Stelle und es ist für sie kaum von Bedeutung, ob dabei dem kommunikativen Mittel von den Betrachtern eine Kunstqualität zuerkannt wird oder nicht. Aber auch den meisten anderen KünstlerInnen, die sich heute mit Plakaten ins Freie wagen, ist dann eine Wahrnehmung als Kunst seitens der Passanten unwichtig. Abgesehen von solchen persönlichen Beurteilungen ist es vor allem der hier nicht nur intendierte, sondern in der Regel auch realisierte, starke Kontextbezug, der für das künstlerische Agieren in dieser öffentlichen Sphäre einen überkommenen Werkbegriff auflöst und liquidiert. Die meisten Projekte sind gezielt für diesen einen Kontext konzipiert und ‘funktionieren’ auch nur in ihm. Wenn manchmal Künstlerplakate dieses spezifisch neuen Typs in Ausstellungen vorgestellt oder durch Ankauf einer nachträglichen Musealisierung zugeführt werden, lassen sich deshalb fragwürdige und kritische Aspekte nicht verleugnen: Aus dem Bezugsfeld abgezogen, dem sie zugedacht sind und das allein letztlich ihnen Signifikanz gibt, werden sie einer anderen ästhetischen Ordnung, einer ganz anderen Sichtweise unterstellt und unterliegen so einer schlechten Reduktion auf ihre formale Oberfläche. Freilich trifft dieser Vorwurf – der einer Unangemessenheit der physischen Rückholung in den Kreis der Kunst – nicht immer zu: Es gibt durchaus Plakate, die unter beiden Rahmenbedingungen zu „arbeiten“ im Stande sind, oder auch solche, die dezidiert auf ein Changieren zwischen den Bereichen angelegt wurden. Diese Fälle aber außer Acht gelassen, zeigt sich an der Wiedereingemeindung in die Kunstinstitutionen ein weiteres Mißverhältnis. Viele der heutigen Plakate von Künstlern hätten, für sich betrachtet wie nach den Kriterien des Museums allein, im Grunde gar nicht die Qualifikation, dort aufgenommen zu werden. Was von ihnen übrig geblieben ist, wenn sie einmal innerhalb der diskreten vier Wände der Kunst angekommen und dort einer isolierten Präsentation unterzogen sind, wäre nach internen Maßstäben – Innovationskraft in formalästhetischer oder anderer Hinsicht: neu im Sinne dieses Kontexts nämlich, neu für das Museum – eigentlich nicht ausreichend für eine Zutrittsberechtigung. Und was sie dagegen inmitten der Sphäre, für die sie ursprünglich bestimmt waren, allerdings an neuen und ungewohnten Perspektiven aufreißen, läßt sich naturgemäß in den Ausstellungen nicht wiederholen oder abbilden. Nur durch einen gezwungenen imaginativen Rückblick auf ihre gewesene Funktion also ist der besagte Kontextwechsel motiviert: Die Plakate gelangen an den Ort der Kunst bloß, weil sie einmal auf der Straße waren – und dort gute Arbeit gemacht haben.

Setzt sich die Kunst einem gesellschaftlichen Umfeld aus, das zur Gänze im Dienst bestimmter Interessen steht, drängt sich demgegenüber schließlich auch eine Erkundigung nach ihrem eigenen Status auf. Die Rede von der „autonomen Kunst“, die wesentlich durch die Absage an jeden anderen, kunstfremden Zweck geprägt war, ist bekanntlich heute stark in Zweifel gezogen und diese Skepsis scheint besonders hinsichtlich der Kunst auf der Straße plausibel: Kein Werk ist da noch autonom. Vom behandelten Fall aus allerdings – der Kunst im Rahmen eines Kommerzmediums – könnte man dagegen ebenso argumentieren, daß gerade hier bestimmte Aspekte des Autonomiebegriffs nach wie vor relevant wären oder sogar besonders betont werden müßten. Es ist nämlich zu fragen, wie denn die Position jener KünstlerInnen zu bestimmen wäre, die dem Anspruch folgen, frei von den Obstruktionen zu handeln und zu entwerfen, welche in einem solchen Zusammenhang – im Gegensatz zum geschützten Museum – immer wirksam sind. Wie anders denn als autonome ließe sich diese Position beschreiben? Wenn in der aktuellen Dienstleistungstendenz, die auf eine möglichst vollständige Integration der Kunst in die sozialen Zusammenhänge des Alltags erpicht ist, das Motiv eines sozialen Zwecks gegen den Begriff der Autonomie ausgespielt wird, geschieht das auch nicht notwendigerweise und aus der Sache heraus. Daß das Kunstwerk einen sozialen Nutzen erfüllt, soll und muß ja für die KünstlerInnen nicht gleich heißen, eine unabhängige, selbstbestimmte Position aufzugeben. Und genauso hat der für die Kunst im öffentlichen Raum heute allgemein geforderte Kontextbezug nicht die Kündigung der Autonomie zur unbedingten Konsequenz: Bezugnehmen ist nicht gleichbedeutend mit Abhängigkeit. Sollte man nicht eher differenzieren zwischen einer Autonomie des Kunstwerks, die obsolet ist oder nie statthatte, und einer der Kunst, welche nach wie vor entscheidend ist für deren gesellschaftlichen Wert? Die Verabschiedung der Idee der Autonomie im heutigen Diskurs erscheint, weil sie noch immer als identitätsstiftende Kategorie der Kunst fungieren könnte, von daher als verfrüht, als unnötige Schwächung, wo vielmehr eine Neufassung ihres Begriffs angezeigt wäre. Im speziellen auch für die Kunst im Plakatmedium: Denn in einem Feld, das in allen Momenten von Zwecken beherrscht ist, kann sich die Kunst, mag sie nicht ungewollt instrumentalisiert werden, selbst nicht zweckfrei halten. Die Art der Zwecke aber macht den Unterschied. Joseph Beuys hat das einmal so umschrieben: „Ob Werbung Kunst ist, hängt davon ab, wofür man wirbt.“


in: Otto Mittmannsgruber/Martin Strauß (Hsg.), “Plakat.Kunst. Über die Verwendung eines Massenmediums durch die Kunst”, Springer-Verlag, Wien-New York, 2000
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